Einführung

Thomas Michalak

Körper, Identität, Anpassung, Widerstand.

In Nachfolge der von Michael Schmidt gegründeten Werkstatt für Photographie wird an der Kreuzberger VHS seit 30 Jahren künstlerische Fotografie unterrichtet. Das Photocentrum am Wassertor ist heute nicht mehr Avantgarde, es ist aber nach wie vor einzigartig mit seinen engagierten, weniger formal-ästhetisch als inhaltlich ausgerichteten Lehrgängen und seinem Curriculum, das sich über sechs bis acht Trimester erstreckt. Auf drei Trimester Grundlehre folgt ein umfangreicher Themenbereich. Abgeschlossen wird nach einer einjährigen Projektklasse mit einer eigenständigen künstlerischen Arbeit, die in einer Ausstellung oder einem Künstlerbuch präsentiert werden soll.

Das Einmalige an einer Volkshochschule ist dabei die Zusammensetzung der Klassen: Mir fällt kein anderer gesellschaftlicher Ort ein, an dem in einer so heterogenen Zusammensetzung (Alter, Herkunft, Bildung, Nähe oder Ferne zum Kunstbetrieb, Nationalität, etc.) offen diskutiert und ernsthaft argumentiert wird. Mein Ziel als Dozent ist es, alle Teilnehmer_innen zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema und daraus folgend zu einer eigenständigen fotografischen Arbeit zu ermutigen. So verschieden oder so ähnlich die persönlichen Sichtweisen auf ein Thema sind, so verschieden oder verwandt sind die in einer Abschlussausstellung gezeigten Bilder.

Körper

Unser Körper grenzt uns deutlich sichtbar gegen andere und anderes ab. Obwohl er sich laufend verändert, erfahren wir ihn als Einheit. Ob wir ihn akzeptieren oder oder ob er uns fremd ist – an unserem Körper machen wir einen großen Teil unserer Ich-Identität fest. Er ist der Ort unserer Einsamkeit und das Instrument unserer Sexualität. In unseren Körpern erleben wir Glück und Schmerz, wir gestalten sie und passen sie unseren Vorstellungen an.
Wir schützen und bewaffnen unseren Körper. Wir wappnen ihn gegen Krankheit und Tod und verdrängen seine Verletzlichkeit, die wir in Bildern von Flüchtlingen, Misshandelten, Gefolterten, Hungernden und Katastrophenopfern täglich vor Augen geführt bekommen. Der Körper ist das „Schlachtfeld“ (Barbara Kruger) auf dem wir unser Leben entwickeln. Er ist das Letzte, das uns bleibt, wenn wir alles andere verloren haben.

Identität

Für Foucault ist der Körper der Ort, an dem sich die Macht des Staates zeigen kann. Ort der Machtanwendung und der Machterfahrung. Machteinwirkungen gestalten Körper und Selbstbild gleichermaßen. Nach Foucault sind sie es, die Identität formen. Die Formen gesellschaftlich politischer Machtausübung haben sich – zumindest in der westlichen Welt –  seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verändert.

Nicht physische Gefangenschaft, sondern strukturelle Gewalt, das scheinbar alternativlose Verwobensein mit einer dynamischen, von Konkurrenz angetriebenen Ökonomie, formt heute Identität und Körper. Ökonomisch betrachtet ist unser Körper Ware. Wir verkaufen unsere Arbeitskraft – je nachdem, wo wir geboren worden sind – zu einem guten Preis oder zu einem Hungerlohn. Was uns dann – real oder eingebildet – fehlt, kaufen wir. Wir fügen es unserem Körper hinzu und nennen die Summe „Identität“. Nicht mehr Gefängnisse, sondern Konsumfallen machen uns zu dem, was wir sind. Wenn dem so ist, dann ist das Körperliche auch ein Ort für Widerstand.

Mit ihrer Nähe zum Sichtbaren ist die Fotografie gut geeignet, das Sein und die Verhältnisse unserer Körper auf gesellschaftliche, politische oder ästhetische Zuschreibungen hin zu befragen. Dokumentarische und künstlerische Strategien machen verdrängte oder zensierte Strukturen sichtbar und stiften Selbstbewusstsein. Als bildgebendes Medium erlaubt Fotografie auch, Gegenbilder und Utopien zu formulieren. In den 1960er Jahren war es hauptsächlich die Performance, die soziale und politische Einflüsse auf den vergesellschafteten Menschen unmittelbar am eigenen Körper formulierte. Die Fotografie hatte dienende Funktion: Sie dokumentierte die Aktionen und machte sie so medial verfügbar. Später befruchten sich Fotografie und Performance gegenseitig und sind nicht immer deutlich voneinander zu trennen.

Anpassung

In unserer  immer noch patriarchalischen Gesellschaft bekommen Frauen die Zuschreibung „das schöne Geschlecht“. Seit Jahrhunderten erwarten und gestatten wir, dass sie Zeit, Aufmerksamkeit und Geld auf Pflege und Gestaltung ihres Körpers verwenden. Frauen kennen und diskutieren die Folgen der Anpassung an Körpernormen auf Selbst- und Fremdwahrnehmung daher schon lange. Emanzipationsbestrebungen und Marktinteressen haben Männer im 20. Jahrhundert aufholen lassen. In einer zunehmend medial kommunizierenden und auf äußere (zeig- und fotografierbare) Werte ausgerichteten Welt bekommt das Aussehen unserer Körper und der Dinge, mit denen wir uns umgeben, einen realen Tauschwert. Der eigene Körper kann selbst zum Ding werden, das gestaltet und bei erhöhtem Leistungsanspruch auch „getuned“ werden kann. Die Grenzen der Anpassungsfähigkeit werden oft abrupt als Versagen (Burnout, Infarkt, Impotenz) erfahren.

Dem verdinglichten Körperbegriff haben wir im Ausstellungstitel das ganzheitlichere Wort „Leib“ entgegengestellt. Es meint die lebendige Einheit, die jeder von uns ist. Erstaunlicherweise und der Wortbedeutung entgegengesetzt sprechen wir eher von toten Leibern und von Körper-Pflege. Existenzielle Erfahrungen, etwa eine schwere Krankheit, die Geburt des eigenen Kindes oder der nahe Tod,  können uns diese Ganzheit und gleichzeitig die Grenzen der Verfügbarkeit erlebbar machen.

Widerstand

Soldaten_innen in Krisengebieten und Menschen auf der Flucht machen Erfahrungen damit, wie körperlich Leben und Sterben ist. Diese Erfahrungen verändern manche so, dass sie später kein normales Leben führen können. „Posttraumatische Belastungsstörung“ ist eine technische und distanzierende Bezeichnung dafür. Bilder in Konflikten oder Naturkatastrophen geschundener Leiber werden in fast allen Medien der Selbstzensur unterworfen. Verdrängung oder Schutz der Menschenwürde? Der Kriegsberichterstatter und Fotograf Christoph Bangert plädiert mit seinem Buch „War Porn“ für reale Bilder: „If we don‘t allow ourselves to look at horrific images, how will we be able to remember events comprehensively?“ In einem von politischen oder wirtschaftlichen Interessen geprägten Medienumfeld werden unzensierte Bilder widerständig. Wenn sie denn zu sehen sind. In einem von Konsum, Wachstum, und Konkurrenz bestimmten Lebensumfeld kann das pure körperliche Sein ein Bild des Widerstehens formen. Wie in den Performances „standing man“ des Tänzers Erdem Gunduz auf dem Taksim Platz, „Man and his Things“,  von Akademia Ruchu, 1978 in Santarcangelo di Romagna, oder „The Artist is Present“ von Marina Abramovic, 2012 im New Yorker MoMA. Selbst-Bewusstsein. Alternativen im scheinbar Alternativlosen: im Protest, im Konsum, in der Kommunikation.

Dank

Mein Dank gilt zuallererst den Fotograf_innen, die sich auf die Herausforderungen eines so existentiellen Themas eingelassen haben. Wie persönlich die Beschäftigung mit Leiblichkeit ist, zeigt sich darin, dass die große Mehrzahl von ihnen den eigenen Körper zum Ausgangspunkt genommen haben. In offenen und intensiven Auseinandersetzungen konnten wir ein Jahr miteinander lernen. Wir hatten eine gute Zeit.

Ohne den politischen Willen, Kunst und Fotografie in der Erwachsenenbildung auf einem hohen Niveau anzubieten, und das Photocentrum auch dreißig Jahre nach dem Ende der Werkstatt zu einem besonderen Ort der Fotografieausbildung zu machen, hätten wir diese Arbeit nicht tun können. Herzlich danken wir dafür der Volkshochschule Friedrichhain-Kreuzberg, ihrer Direktorin Bärbel Schürrle, dem Fachbereichsleiter für kulturelle Bildung Peter Held sowie allen ungenannten Mitarbeitenden, die uns unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt Ralf Hanselle für seinen aufschlussreichen Text „Selbst-Verkörperungen. Über das Wechselspiel von Körper und Identität in der Fotografie“, den er eigens für diesen Katalog geschrieben hat.

Leib - Körper, Identitäten, Anpassung, Widerstand.

© Thomas Michalak: Einführung “Körper, Identität, Anpassung, Widerstand”, abgedruckt im 88-seitigen Ausstellungskatalog zur Leib-Ausstellung