Persönliche Fotografie
Werte. Arbeitsweisen. Bilder.
Ausstellung im Kunsthaus Bethanien vom 2. bis zum 11. Juli 2010
Teilnehmer_innen
Knut Bäcker, Monika Behringer, Simone Düll, Erhard Flach, Ute Maria Glaß, Kerstin Greusing, Katja Hammerle, Katrin Henn, Anna Homburg, Edda Kapsch, Frauke Langguth, Rainer Menke, Anna Pawlowska, Isabel Pilz-Glathar, Sibille Riechardt, Ulrich Stindt-van Well und Beate Wolff.
Einführung
In den 1960er und 1970er Jahren löste die subjektive Dokumentarfotografie den scheinbaren Widerspruch zwischen persönlich motivierten Bildern und einem Dokument der vorgefundenen Welt auf. „Hier, so ist es, das habe ich gesehen, das hat mich interessiert…“, bestimmte die Haltung führender Fotografinnen und Fotografen zu ihrem Medium und zur Welt. Die in dieser Zeit vorherrschende Richtung der amerikanischen Fotografie bestimmte bis in die 1980er Jahre die Lehre an der Berliner „Werkstatt für Fotografie“, der großen Mutter des heutigen Photocentrums am Wassertor. Subjektive Sichtweisen und sehr persönliche Bildfindungen bestimmten noch in den 1980er Jahren maßgebliche Positionen künstlerischer Fotografie.
Kommerziellen Welterfolg erreichte die deutsche Fotografie in den 1980er und 1990er Jahren allerdings mit farbigen Dokumentarfotografien in malerischen Formaten. Noch immer sind die Bilder von Andreas Gursky die teuersten zeitgenössischen Fotografien, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden.
Die Beschränkung auf das Faktische lässt dem Subjekt wenig Spielraum. „So ist es, das sind die Fakten!“, legitimiert seit vielen Jahren beinahe jede Einschränkung, jeden Sparkurs, jede kriegerische Auseinandersetzung: Auswege, Umwege, Fantasie und Utopie haben deutlich weniger Bilder und eine wirklich kleine Lobby.
Es verwunderte daher kaum, dass zu Beginn des Jahrtausends einige Künstler-Fotografinnen und ‑Fotografen den Wunsch hatten, dem Diktat realistischer Bilder zu entfliehen. Die 2005 gegründete Künstler-Gruppe „Absage an die Wirklichkeit“, die ein gleichnamiges Manifest, einen Katalog und eine Wanderausstellung konzipierte, orientierte sich jedoch am Pictorialismus und sah ihr Heil in fotografischer Unschärfe und dem Einsatz malerischer Mittel. Dabei bietet der Rückgriff auf die Autoren- oder subjektive Dokumentarfotografie verbunden mit Konzept und Inszenierung gute Möglichkeiten für die Entwicklung offener Bildsprachenkonzepte. Vielleicht ist das Aufweichen des scheinbaren Widerspruchs zwischen inszenierter und dokumentierender Fotografie eines der wesentlichen Resultate der Diskussion um den Wahrheitsgehalt von Fotografie in der so genannten digitalen Revolution.
Erfreulicherweise mehren sich seit der Jahrtausendwende solche Positionen. Diese Fotografie löst sich von der objektivierenden Großbildtechnik – einer von der Becherschule weiterentwickelten Bildsprache des 19. Jahrhunderts – und bezieht sich auf den subjektiven und persönlichen Ansatz der Fotografie der 1970er und 1980er Jahre. Sie verbindet das Abbild mit dem inszenierten Bild, um eine gültige, aber eben nicht verbindliche Aussage zur Welt zu machen. Wolfgang Tillmans spricht über seine Motivation zu fotografieren in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist vom Januar 2007: „Ich will […] bewahren und eigentlich sagen: ‚Das ist wahr, das ist wichtig. Ich will, dass es mehr davon gibt.‘ Wenn ich Gegenstände oder Lebewesen fotografiere, dann will ich in der Regel, dass es in meiner Welt mehr davon gibt.“
Das Klären des eigenen Interesses an der Welt ist anregend und ein wichtiger Schritt der Emanzipation des Subjekts gegenüber einer als möglicherweise als autoritär, fantasiearm und ausweglos erlebten Vor-Bilderwelt. Das Verbinden subjektiv dokumentierender und konstruierender Elemente eröffnet einen Raum motivierter Welt- und Bildgestaltung. Das Persönliche vom Privaten zu scheiden, im eigenen Interesse das Allgemeine entdecken, ist eine Voraussetzung von Kunst, die kommunizieren will, die sich nicht verweigert, sondern fragt, lacht, plaudert, politisiert, träumt, trauert, wütet, wünscht… Eben: ein Statement formuliert: „Hier, das habe ich gesehen, das hat mich interessiert, so will ich leben…“
Die Arbeiten der Klasse „Persönliche Fotografie: Werte. Arbeitsweisen. Bilder.“ wenden den Blick vom Motiv auf die Motivation, vom Objekt zurück auf den Fotografen, die Fotografin. Die Verdeutlichung und Reflexion eigener Werte, Herangehensweisen und Bildvorstellungen ist die Basis für eine eigene fotografische Arbeit. Persönliche Themen und Fragestellungen sind gefordert.
In dieser Ausstellung werden die Arbeiten von 17 Fotografinnen und Fotografen gezeigt. Die gemeinsame Arbeit fand zwischen September 2009 und Juni 2010 statt. In den meisten Fällen entstanden die Arbeiten neben einer Vollzeitbeschäftigung in der persönlichen Freizeit. Die einer nicht-akademischen Abendschule typische heterogene Zusammensetzung der Gruppe ermöglichte spannenden Austausch, der sich in den unterschiedlichen Fragestellungen und Ausdrucksformen widerspiegelt.
Isabel Pilz-Glathar und Ulrich Stindt-van Well interessieren sich für die wenig offensichtlichen Bilder des Alltags. Dinge oder Geschehnisse werden in ihren Bildern nicht auf deren üblichen Gebrauch oder Nutzen, auf deren mögliche Moral oder auf deren „Sinn“ hin befragt. Außerhalb jedes Verwertbarkeitsgedankens betrachten Sie Bilder als „Geschenk der Welt“. Dabei gehen Sie recht unterschiedlich vor: Während Stindt-van Well beinahe täglich kleine, durch spontane Eindrücke motivierte Serien produziert, mit denen er seinen Hunger nach Bildern der Welt stillt, nähert sich Pilz-Glathar ihren Themen eher langsam. Sie lotet sie gründlich aus, um ihnen eine adäquate Form zu geben.
Im Vordergrund der Arbeiten von Knut Bäcker, Rainer Menke, und Sibille Riechard steht die starke Identifikation mit der eigenen fotografischen Arbeit (Knut Bäcker schreibt, es scheine ihm manchmal so, als sei er seine Bilder). Alle drei thematisieren (Ich-)Identität und deren erwünschte oder zwangsläufige Wandlung im Einfluss eigener oder fremder Wertvorstellungen: Während Riechards Interesse bei der Metamorphose vom Linearen zum Nicht-Linearen und Organischen liegt, thematisiert Bäcker die Veränderung zum Guten (Akzeptanz, Liebe) und befragt Menke schließlich die sozial vermittelten (Selbst-)Definitionen und die damit verbundenen Unterdrückungsstrukturen. Werte erscheinen ihm als ambivalent und kontextabhängig. Alle drei verbindet ein forschender Ansatz mit der Forderung nach Akzeptanz der vorhandenen Vielfalt.
Die stille Rückbesinnung an als positiv empfundene Werte und die damit verbundene Suche nach einer Neuausrichtung im Jetzt, nach Halt oder Verankerung – das thematisieren die Bilder von Monika Behringer, Simone Düll und Ute Maria Glaß. Während Behringer und Düll alltägliche Gegenstände oder Sinneseindrücke durch starke Reduktion und partielle Unschärfe mit Bedeutung aufladen, arbeiten die Bilder von Ute Maria Glaß stärker in einer exemplarisch-symbolischen Weise. Es entstehen Stimmungen und Atmosphären, die im günstigen Fall mit den Erfahrungen des Betrachters in Beziehung treten. Ob Verlust einer nahen Person oder das drohende Selbstverschwinden in den Forderungen der zeitgenössischen Schnelllebigkeit: Diese fotografische Suche des Ich nach verlässlichen persönlichen Werten und Vorbildern, dient der Repositionierung in der eigenen Mitte. Das eigene Ich und die Anforderungen, denen es ausgesetzt ist, stehen im Zentrum dieser Arbeiten.
„Niemand steigt zweimal in den selben Fluss.“ Dieses alte, buddhistische Sprichwort verbildlicht die Flüchtigkeit des Seins und das ewig Neue jeden Augenblicks. Die Bilder von Erhard Flach, Anna Pawlowska und Beate Wolff eint Bewegung und die Auflösung fotografischer Schärfe. Sie kreisen um die Flüchtigkeit des Augenblicks, sei es der Moment einer Begegnung (Pawlowska, Wolff) oder die kurze Dauer von Intimität (Pawlowska). Sei es die Flüchtigkeit eines Gefühls, ob manisch heiterer (Wolff) oder einsam melancholischer Färbung (Flach). Wir ahnen, dass nichts bleibt, wie es ist und dass nichts ist, wie es gerade scheint.
Kerstin Greusing, Katrin Henn und Frauke Langguth befragen die Welt mit dokumentarisch fotografischen Mitteln. Auch ihr Thema ist der Übergang, die Metamorphose, und das auf je unterschiedliche Weise. Frauke Langguth widmet sich der Eltern-Kindbeziehung und dem Faszinosum der Technik für Heranwachsende. Sie beschreibt, was passiert, wenn nicht mehr pädagogische, sondern ästhetische Kriterien die Wahrnehmung leiten. Katrin Henn setzt sich in den Porträts ihres Sohnes mit der Pubertät, mit dem Übergang vom Kindsein zum Erwachsenwerden, auseinander. Der Rückzug und die Verschlossenheit muss nicht mehr als Ablehnung erlebt, sondern kann als schützender Kokon für die Geburt eines Schmetterlings verstanden werden. Wiederum anders widmet sich Kerstin Greusing dem Thema des Übergangs. Sie nähert sich der radikalen körperlichen Veränderung, die eine Frau in den Wechseljahren erfährt. In großen Formaten zeigt sie sich nackt mit ihrer Tochter, die dieselben Gene besitzt wie sie, aber in einer anderen Lebenszeit ist. Auf diese Weise kann sie ihre eigene Veränderung am deutlichsten erkennen. Alle drei thematisieren die eigene Wandlung, und sprechen zudem von sozial vermittelten Werten wie Erziehung (Langguth), von Schönheit und sozialer Rolle (Greusing) oder von der Mutter-Sohn-Beziehung (Henn).
Der letzte, siebte Satz in Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ – einem meiner entschiedenen Lieblingsbücher – lautet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Kurz zuvor schreibt er: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Katja Hammerle, Anna Homburg und Edda Kapsch verwenden Bilder als alternative Sprache und als alternatives Forschungsinstrument, um Unaussprechliches, wenig Definiertes oder nicht Definierbares, Mehrdeutiges, Mystisches, Randständiges oder Komplexes auszudrücken und zu erforschen. Alle drei Arbeiten eint, dass Sie sich einer rationalen Definition von Welt und einer linearen Sinnstiftung verweigern. Diese Bilder fragen und antworten zugleich. Sie rufen tief ins Innere der Welt und des Ich und zeigen uns das Echo im Bild. Hammerle, Homburg und Kapsch zeigen uns, das offene Fragestellungen offene und dennoch sinnvolle und brauchbare Antworten produzieren können. Ihre Unterschiede finden sich im Wesentlichen in den Bildsprachenkonzepten: Hammerle und Kapsch arbeiten strenger seriell in atmosphärisch-symbolischen Bildern, während Homburg ein immer dichter werdendes Rhizom aus assoziativen Einzelbildern flicht.
Ich möchte allen danken, die am Zustandekommen dieser Ausstellung beteiligt waren. Allem voran gilt mein Dank den Teilnehmern des Kurses selbst, die mit hohem zeitlichem und finanziellem Aufwand ihre Beiträge erarbeitet und realisiert haben. Mein Dank gilt auch der VHS Friedrichshain-Kreuzberg, ihrem Direktor Herrn Dr. Klaus-Dieter Niemann für die Förderung dieses landesweit einmaligen Unterrichtsmodells, dem Fachbereichsleiter Fotografie, Herrn Peter Held, für seine anhaltende Unterstützung und dafür, dass er uns in vielen organisatorischen Dingen den Rücken für unsere Arbeit freigehalten hat, sowie schließlich dem Team des Hauses in der Wassertorstraße, das unsere ungewöhnlichen Arbeitszeiten leicht genommen hat.