Die Wiederaneignung der Bilder

Eine Einführung

Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts leben wir, als Bewohner des globalen Nord-Westens, in einem Bilderuniversum. Ein zunehmend größerer Teil dessen, was wir über die Welt zu wissen meinen, ist medial vermittelt.

Jeden Tag fordern Werbetafeln, Presse, Fernsehen oder soziale genannte Medien dazu auf, Unmengen von Bildern wahrzunehmen, einzuordnen und auch gleich wieder zu vergessen. Nur wenige bewegen uns nachhaltig, werden zu Schlüsselbildern unseres Weltverstehens.

Um die schiere Menge der Grafiken, Fotos und kurzen Video-Clips bewältigen zu können, bemühen wir intuitive Bereiche unseres Gehirns, die rationaler Analyse und Betrachtung in Geschwindigkeit weit überlegen sind. Voraussetzung für diese schnelle Verarbeitung ist, dass Muster, denen die Bilder folgen, bekannt sind. Dabei spielen die jeweiligen Kontexte eine wichtige Rolle. Sie bringen Form und Anleitung zur Bildwahrnehmung mit.

Als gäbe es einen geheimen Konsens zwischen Sender/in und Empfänger/in, bleibt die Wirkung der meisten Bilder affirmativ: „Kenn’ ich“, „weiß ich“, „das will ich (auch)“, „so ist es“. Aber auch die Ablehnung bleibt oft ohne Widerspruch, kleidet sich in die Form „interessiert mich nicht“ und schon ist das Gesehene vergessen. Kontext und Inhalt eines Bildes formen einen Korridor, in dem das Wahrgenommene unser Bewusstsein nur streift. In dieser, so nicht kritisierbaren Form entfalten z. B. Werbebotschaften – ob für Produkte oder Politiken – ihre starke Wirkung.

Dekonstruktion (ein von Jaques Derrida entwickelter Begriff, der die beiden Teile Destruktion und Konstruktion vereint) ist eine Methode, die einerseits die als Einheit wahrgenommene Form von Medium und Inhalt, z. B. Facebook und der dort geposteten Bilder, aufzulösen imstande ist, andererseits aber auch innerbildlich untersucht, welche Lesarten tradiert (und damit intendiert) sind und welche Informationen das Bild – obwohl enthalten – nach Möglichkeit nicht kommunizieren soll.

Der Beginn des Dekonstruktionsprozesses setzt das Nachlassen der affirmativen Wirkung voraus und ist daher meist im rezipierenden Subjekt begründet. Die Bilder passen entweder nicht (mehr) zum eigenen Weltverständnis oder die angebotenen Lesarten werden als Verschleierung relevanter Informationen empfunden, während adäquater Ausdruck der eigenen Weltsicht fehlt. Das Ziel liegt in der Wiederaneignung der Deutungshoheit über Bildinhalte. Es ist daher naheliegend, dass diese Technik gerade in Emanzipationsbewegungen häufig eingesetzt wird.

Sind Kommunikationsformen und Inhalte dekonstruiert, erlauben die Elemente einen Blick auf enthaltene, aber vorher verdeckte Informationsbestandteile. Sie lassen sich sammeln und auf Gemeinsamkeiten hin untersuchen. Seriell geordnet können so z. B. Vorurteile, Wahrnehmungsverzerrungen (rassistischer, geschlechterbezogener, sozialer oder kultureller Bias) und verborgene Interessen sichtbar werden. Mit den Mitteln der Montage verschiedener, auch gänzlich fremder Text- oder Bildelemente lassen sich die Ausdrucksmöglichkeiten schließlich stark erweitern. Welche neuen Inhalte vermittelt werden, ob der Fokus eher auf der Analyse eines Sachverhalts oder dem persönlichen Ausdruck liegt, hängt ganz von den individuellen Kommunikationsabsichten der jeweiligen Autor/innen ab.

Die entstandene, neu zusammengesetzte Bildwelt fordert allerdings aufmerksames Entschlüsseln der auf verschiedenen Ebenen nebeneinander gesetzten Bild- und/oder Textebenen. Ein halbbewusstes Konsumieren erlauben diese Bilder, zumindest bis sie zum Produkt oder einer Mode geworden sind, nicht.

Damit ist ein Ziel des Kurses beschrieben, dessen Abschlussarbeiten hier zu sehen sind: Die Emanzipation des eigenen Wahrnehmungsprozesses in einer Flut von Bildern, die ihre Lesart immer schon mitzubringen scheinen.

Ein Jahr haben die Teilnehmerinnen und der Teilnehmer des Projektkurses „Dekonstruktion und Montage“ am Photocentrum der VHS Friedrichshain-Kreuzberg (Leitung Thomas Michalak) sich mit dem Kursthema beschäftigt. Zunächst stand das Kennenlernen etablierter künstlerischer Positionen im Vordergrund. Dabei stellte sich heraus, dass gerade Frauen und Mitglieder von anderen, in Emanzipationsprozessen befindlichen gesellschaftlichen Gruppen, besonders von der Technik der Montage Gebrauch machen. Nach der Recherche wurde die jeweils eigene Frage geschärft und schließlich eine bildnerische Form entwickelt.

Foto: Felicitas Berens

Für Felicitas Berens sind zwei Beobachtungen zu einem gemeinsamen Thema geronnen: Die kaum vorhandenen Bilder von Körpern älterer Frauen, respektive den Zuschreibungen, mit denen sie verbunden werden: erfahren, ruhig, selbstlos und ohne sexuelles Verlangen. Zum anderen die Unfähigkeit vieler in wirtschaftlich und technisch hoch entwickelten Gesellschaften, das eigene Leben als Teil eines komplex vernetzten Systems mit begrenzten Ressourcen zu sehen. Den Versuch, die Wildheit, das Chaos der Welt zu bändigen und sich über andere Lebensformen zu erheben, hält sie für zum Scheitern verurteilt.

Die Elemente, aus denen Felicitas Berens ihre Bilder zusammensetzt, sind selbst fotografiert. Ihre Motive findet sie auf langen Spaziergängen und indem sie sich selbst vor der Kamera inszeniert. Diese Teile werden mit einem einfachen Programm, das auf jedem Telefon zu finden ist, zusammengesetzt.

Foto: Eva Grillhösl, “Leporello”

Eva Grillhösl ist in Bayern aufgewachsen. Landschaften, Sprache und Gebräuche, aber auch Freundschaften und Familie sind wichtiger Teil ihrer Identität. Als Wahlberlinerin wurde sie in der Hauptstadt mit einem Zerrbild der bayerischen Lebensart konfrontiert, die sie auch in der einschlägigen Tourismuswerbung wiederfand. Die inneren Bilder traten in einen Konflikt mit den äußeren – ein Konflikt, der durch abschätzige Äußerungen der Eltern hinsichtlich des Berliner Lebens der Tochter noch verschärft wurde. Es begann ein Prozess, in dem sowohl das Selbstbild in Inszenierungen mit bayerischen Attributen befragt, als auch ganz eigene „Heimatbilder“ fotografiert wurden. Die Stereotypen, wie sie Eva Grillhösl in Reiseführern und Reiseprospekten oder der Oktoberfestberichterstattung vorgefunden hat, traten in den Hintergrund und sind im Ausstellungsbeitrag nicht mehr vorhanden. Sie fehlen auch nicht. Im Gegenteil: Sie sind durch die persönliche Auseinandersetzung überflüssig geworden. Ein kleiner „Schatz“ ist das „Leporello“ – eine Zusammenstellung von acht Bildern aus dem Haus der Großmutter. Obwohl vor Jahren schon an eine fremde Familie verkauft, hatte Eva Grillhösl die einmalige Chance, in jenem Haus nach Spuren ihrer Erinnerungen zu suchen.

Foto: Michael Kemmer, “Letzte Ruhestätte”

Als Rauminstallation, in der er die Besucher/innen zum Sehen und Berühren einlädt, zeigt Michael Kemmer seine Arbeit „Püppi“. Das mal frauenfeindlich, mal stark sexualisiert, mal harmlos konnotierte Wort ist in dieser Ambivalenz bewusst provokativ titelgebend. Bilder des weggeworfenen Kinderspielzeugs, das auch im Dreck und unvollständig seinen Verweis auf Körperlichkeit, Weiblichkeit und (unschuldige) Kindheit behält, reflektieren materielle als auch ideelle Werte (Kaufwert, Gebrauchswert versus Menschenwürde, Recht auf körperliche Unversehrtheit) und spielen beide auf süffisante Weise gegeneinander aus.

Indem Michael Kemmer ein in der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung am höchsten bewertetes Gut – die unschuldige, unbedingt schützenswerte, reine Kindheit – mit billigen Materialien aus einem kurzlebigen Kitschuniversum kombiniert, zerstört er das heimliche Einverständnis, das über Missbrauch und Ausbeutung hinwegtäuscht und diese durch Schweigen erst ermöglicht. Dabei klärt er nicht auf, wird nicht zum Kämpfer, sondern zerschlägt in bester Tradition des Harlekins den Spiegel, um sich dann grinsend in die Ecke zu stellen. Schlussfolgerungen, Moral und Konsequenzen überlässt er uns.

Foto: Natascha Kratochwila, “Harpyien”, aus der Serie “Göttinen und/oder Superheldinnen”

Die Collagen von Natascha Kratochwila sind im besten Sinne analog. Mit Skalpell und Klebstoff montiert sie Elemente aus Zeitschriften, Magazinen oder vom Vater geerbten, fast ausgeblichenen Blumen- und Landschaftsfotografien. Ausgangspunkt ihrer Bildfindungen sind Begriffe oder Definitionen aus Wörterbüchern oder Lexika des 20. Jahrhunderts. Als solche behaupten sie Objektivität und sind doch bestimmt von nicht ausgesprochenen Bewertungen, historisch und sozial bedingten Vorurteilen. Der sich verändernde zeitliche Kontext lässt ihren Bias sichtbar werden, den Natascha Kratochwila in ihren Collagen verstärkt und kommentiert. Mit dem Titel „Göttinen / Superheldinen“ transponiert sie heute weitgehend unbekannte weibliche mythische Figuren zu Vorbildern in die Jetzt-Zeit. (Die Konzeption dieser Arbeit wurde in einem Kurs mit Dagmar Kolatschny begonnen). Nachdenklich stimmt das Aufeinandertreffen von in warme Farben verblichenen Blumenfotos, mit Zeitungsbildern von Kindersoldaten, Fleischerhaken, Mauerbildern und anderen meist an Gewalt, Ausgrenzung oder körperliches Ungemach erinnernde Schwarzweiß-Fotos in der Arbeit „Zeitreise“. Jedes der zwölf Blätter trägt die Definition eines Begriffs mit sich, der ebenso vage, wie im politischen Diskurs häufig ist. „Umwelt“, „Populismus“, „Bürger“, „Hoffnung“ oder z. B. „Metamorphose“ sind große Wort-Bilder, aber zugleich zu unscharf für die im Angesicht globaler Krisen notwendigen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse. Trotz ihrer Kritik und Ironie, lassen die Collagen von Natascha Kratochwila Raum für Positives: Warme Farben, die lustigen Auftritte einiger Protagonisten, lassen Schönheit empfinden und erlauben ein Lächeln.

Foto: Susanne Leibold, “Er”, aus der Arbeit “BILD”.

Das Phänomen medial inszenierter Skandale untersucht Susanne Leibold in ihrer Arbeit „BILD“ am Fall „Julian Reichelt“. Dass das Skandalisierungsmedium, in Gestalt ihres Chefradakteurs, in diesem Fall selbst zum Objekt wird, setzt einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf Bewertungen von Verfehlungen immer wieder neu bestimmt werden.

In ihren großformatigen Collagen identifiziert Susanne Leibold sowohl die Subjekte (Personen und Gruppen) als auch die Objekte (Werte und Regelverstöße), die in diesem Diskurs verhandelt werden. In den Montagen einer Vielzahl medialer und auch selbst fotografierter Bildteile trägt sie den komplexen, selten monokausalen, Verbindungen Rechnung. Den in einem Abstand vor der Wand montierten transparenten Bild-Tafeln unterlegt sie Texte, die der umfangreichen Literatur zum Skandal um Julian Reichelt entstammen. Eine vollständige Lesbarkeit ist nicht intendiert. Vielmehr kann die bruchstückhafte Lektüre einzelner Text- und Bildteile ein Nachdenken über Kommunikationsstrategien in Bezug auf öffentlich gewordene Norm- und Regelverletzungen befördern.

Foto: Julia Zacharias, “You’re Somebody Else”, aus der Arbeit “Gezeiten”

Nach einer zerbrochenen Beziehung sucht Julia Zacharias in den Bildern aus gemeinsamer Zeit nach Spuren: Wie hat das Glück ausgesehen und wo schlichen sich Misstöne ein? Welche Konflikte sind noch virulent, führten zum Bruch und wo geht der Weg (allein) weiter?

Die 10 Bildcollagen der Arbeit „Gezeiten“ markieren je einen markanten Punkt: Zwischen „Liebeslied“ und „Freedom“ wird der Prozess der Neubewertung und Emanzipation von erinnerten und fotografischen Bildern vollzogen. Die Montagen sind inspiriert von Songs und Textausschnitten, die Julia Zacharias im selben Zeitraum begleitet und ihre Reflexion unterstützt haben.

Zwei Jahre Corona haben die Teilnehmendenzahlen in unseren Projektkursen deutlich verringert. Die gemeinsame Arbeit ist dadurch noch intensiver, persönlicher und für die Einzelne oder den Einzelnen vielleicht auch noch fordernder geworden. Das selbstständige Arbeiten, das in unseren Projektklassen geleistet werden muss (oft neben einem „Brotberuf“), erfordert Disziplin, insbesondere aber auch Interesse und Leidenschaft. Für diesen hohen persönlichen Einsatz möchte ich mich bei den Teilnehmerinnen und dem Teilnehmer ganz herzlich bedanken.

Für die Unterstützung im Organisatorischen danke ich dem Team der Volkshochschule Friedrichshain-Kreuzberg, hier vorrangig dem Programmbereichsleiter Herrn Lattermann, sowie Frau Schulz und Herrn Robrade von der Verwaltung. Schließlich möchte ich Frau Witzler und dem Hausmeister-Team vom Kunstquartier Bethanien für den Ausstellungsraum danken, in dem wir nun schon so lange zu Gast sind.

Thomas Michalak (Oktober 2022)