Essay

Ralf Hanselle

Selbst-Verkörperungen

Über das Wechselspiel von Körper und Identität in der Fotografie

Die Identität sitzt im Körper. Zumindest ist es guter Brauch, sie dort zu vermuten. Schon Platon schrieb in seinem Dialog „Kratylos“ von einem „Leib“, der als „Kerker der Seele“ diene. Für den antiken Philosophen war das sogenannte „psychophysische Problem“ noch relativ eindeutig zu lösen: Die körperliche Hülle war für ihn eine Art Zeichen der ihm innewohnenden Persönlichkeit (séma psychés); ein Fahrzeug, das von der immateriellen Seele wie von einem Steuermann gelenkt werden konnte. Zwar erfuhr dieser Gedanke im 19. Jahrhundert bei Friedrich Nietzsche und später vor allem in Michel Foucaults Abhandlung „Überwachen und Strafen“ eine weitreichende Umkehrung; doch bis heute schwingt der antike Leib-Seele-Dualismus im Körperbild der Fotografie als Subtext mit.

Körperfotografien, so der verbreitete Glaube, sind ihrem Kern nach Persönlichkeitsbilder. Auf dem Foto eines Menschen verkörpert sich seine individuelle Identität. Seit den frühen Porträtaufnahmen des französischen Fotopioniers Nadar oder den etwa zeitgleich aufkommenden „Carte de visites“ wurde in der Hülle der menschlichen Erscheinung sein identitätsstiftendes Ich vermutet. Ein Ich, von dem die auf Äußerlichkeiten fixierte technische Apparatur indes nur wenig zu zeigen vermocht hat. Gestützt auf das Sezierbesteck der Aufklärung richtete sie daher ihr Augenmerk auf jene Bereiche, die von René Descartes einst als „Dinge der Ausdehnung“ (res extensa) definiert worden waren: Auf Körper, Gliedmaßen, Physiognomien. Verbunden mit der Hoffnung, dass in diesen auch Spurenelemente von Charakter und Lebensgeschichte zu finden sein müssten, machte man sich – ähnlich wie bereits der Scherenschnitt des 18. Jahrhunderts – an die apparative Vermessung des Menschen. Seinen Höhepunkt erreichte dieser kühle Blick auf den Körper Ende des 19. Jahrhunderts mit den erkennungsdienstlichen Fotografien des französischen Anthropologen Alphonse Bertillon. Dessen „anthropometrisches Analysesystem“ leistete jenem Irrglauben Vorschub, der wenig später an die Typisierung von Gut und Böse glaubte.

Erst mit dem Aufkommen der modernen Persönlichkeitsforschung schien das „wahre“ Ich in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Ansätze einer solchen Verschiebung ließen sich bereits in den späten Schriften Sigmund Freuds finden. In dessen 1927 erschienener englischen Übersetzung von „Das Ich und das Es“ schrieb der Begründer der  Psychoanalyse: „Das Ich ist in letzter Instanz von den körperlichen Empfindungen abgeleitet, vor allem von denen, die von der Oberfläche des Körpers herrühren. Es kann also als seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden.“

Seit dieser psychologischen Durchdringung der Leib-Seele-Problematik hat auch das fotografische Körperbild immense Erweiterungen erfahren. Das Außen ist in den zurückliegenden Jahrzehnten mehr und mehr zum Innen geworden; die Haut zu einer Übersetzung der menschlichen Psyche. In Anlehnung an den Freud-Schüler Wilhelm Reich haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, die menschliche Gestalt als eine Art „Charakterpanzer“ zu betrachten.

Und doch hat es immer wieder auch Zweifel an einer auf Oberflächlichkeiten basierenden Seelenkunde gegeben. In seinem Aufsatz „Reale Träume“ etwa schrieb der amerikanische Fotograf Duane Michals: „Die meisten Porträts sind Lügen. Das Wesen der Leute stimmt selten mit ihrer Erscheinung überein, besonders wenn es um Fotografie geht. Selbst wenn wir uns ein Leben lang kennen, kann es sein, dass Du Dich mir niemals enthüllst. Falten als Charakter zu interpretieren, ist Beleidigung nicht Einsicht.“

Mit seinen an Film und Performance orientierten Porträts und Körperbildern ist Michals zu einem Vorreiter einer radikalen Subjektivität geworden. Seine narrativen Ich-Auslotungen haben in den Folgejahren autobiografische Körperforscher wie Francesca Woodman, Bernard Faucon oder auch Dieter Appelt geprägt. Auch die meisten der in diesem Katalog versammelten Fotografen und Fotografinnen stehen in einer solchen Tradition von Suche und Skepsis. Wenn sie etwas vereint, dann ist es das Misstrauen gegenüber allzu schnellen Selbstauskünften.

Der Körper als Spur

Doch wenn der Körper nicht das starre Gehäuse der Identität ist, was ist er dann? Und wie bedingen sich Körper und Persönlichkeit gegenseitig? Anna Homburg und anne k. haben sich in ihren Katalogbeiträgen auf erneute Spurensuche begeben. Für sie scheint der eigene Körper keinerlei festumrissene Struktur oder Statik mehr zu haben. Auf Homburgs Serie „Kung Fu“ etwa zeigt sich der Körper nicht als Hülle, sondern als ein energetisches Kraftfeld. Im Zentrum ihrer Langzeitbelichtungen stehen Prozess, Wandlung und Dynamik. Bewegungsschleier, statt starre Fixierung. Auch die Unschärfen auf anne k.‘s Serie „daily soap“ zeugen von einem eher organischem Werden und Vergehen. „Ich versuche, die Poesie der täglichen Begegnungen mit uns selbst sichtbar zu machen“, schreibt sie über ihre Fotografien, die wie eine Suche nach dem physisch Unbewussten erscheinen. Wie Verstörungen wirken in diesem Prozess die optischen Schleier und Vagheiten; wie Manifestationen jenes längst berühmten Satzes Jaques Lacans, nach dem das Ich nicht das Ich ist („Le je n’est pas le moi.“). In der Unschärfe auf anne k.‘s Fotografien scheint  eine feine Pendelbewegung zwischen Ideal-Ich („je“) und realem Selbst („moi“) offenbar zu werden. Sie kann dabei helfen, die Differenz zwischen diesen beiden Größen immer wieder neu zu verhandeln und auszuhalten.

Der Körper als Ernstfall

Ungewissheiten über das eigene Körperbild stehen auch im Zentrum von Ute Schirmacks Serie „Trotz alledem und alledem“. Dokumentarisch und autobiografisch hat Schirmack einen selbst durchlebten Krankenhausaufenthalt festgehalten. Es geht in ihrem Beitrag darum, „das Unbegreifliche zu fassen“; aufzuhalten, was entgleiten will; einzufangen, was sich zu entfernen droht. Es ist eine Fotografie des Ausnahmezustands. Der Körper befindet sich auf diesen mit einer Handy-Kamera erzeugten Fotografien an den Randgebieten des eigenen Daseins. Im Gegensatz zu allen anderen Arbeiten dieses Projektes hält Schirmack keine fotografische Versuchsanordnung fest. Sie dokumentiert den Ernstfall der Existenz. In der Krankheit wird sich der Mensch der radikalen Unmöglichkeit bewusst, sich selbst zu entkommen. Hier offenbart sich eine letzte Wahrheit: Wir sind an unseren Körper auf Gedeih und Verderb gefesselt.

Eine ähnliche Erkundung betreiben auch Frauke Langguth und Ute C. Bauer. Beide begegnen der je eigenen Körperlichkeit indes nicht an den Rändern, sondern in der Mitte des eigenen Lebens. Langguths Serie „Studio“ etwa ist im Badezimmer der Fotografin entstanden. Ein Ort, an dem sich der Körper jeden Morgen neu entfaltet; an dem das Ich eine ritualisierte Selbstannäherung betreibt. Auf fast parodistische Weise zeichnet Langguth diesen Prozess mit der Kamera nach. Auch Bauers Selbstporträts sind vornehmlich zwischen Bad und Ankleideraum entstanden. Auffällig auf beiden Serien ist die Verwendung von Spiegelbildern. Mit diesen steht auch der Betrachter selbst vor den Vorspiegelungen seines eigenen Daseins. Wie Narziss muss er sich fragen lassen, wer er ist oder sein möchte. „Die Subjekte, die am besten fotografiert werden können“, so hat einst der Medientheoretiker Jean Baudrillard behauptet, „sind jene, die ihre Besessenheit, ihre widerspenstige Identität, ihre narzisstische Gestalt gefunden haben.“ Langguth und Bauer scheinen an diesem Punkt noch unentschlossen zu sein. An jedem Morgen finden und entwerfen sie sich neu. Vielleicht zeigt sich das Ich auf Languths Serie „Studio“ deshalb noch nicht als komplettes Körper-Subjekt. Wie viele Fotografen in diesem Katalog hält Langguth den eigenen Körper nur partiell und fragmentarisch fest.

Körperwelten

Vielleicht ist im Spiegel auch nicht die Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität zu finden – weder im Spiegel des Badezimmers, noch im Spiegel der Fotografie. Wer, wie Wolfgang Busch auf „Inter_Corpus“, die Selbstwerdung als Bildwerdung betreibt, dem drohen Ich-Auflösung und Strukturzerfall.  Der Mensch, so hat es der Religionsphilosoph Martin Buber formuliert, wird letztlich nur am Du zum Ich. Ein dialogisches Prinzip, das besonders die Arbeiten von Markus Rock durchzieht. Erst im Gegenüber verliert das Ich seine narzisstische Struktur. Es erfährt Reibung und Widerstände. Ähnlich verdeutlicht es auch Katharina Stöcker, die sich auf ihrer Serie „Inneres Exil“ mit gesellschaftlichen Projektionen und Zuschreibungen beschäftigt. Doch das Du, von dem Buber in seinem Werk „Ich und Du“ schrieb, muss nicht notgedrungen ein anderer Mensch oder eine soziale Gruppe sein. Ute Ursula Schäfers „Nigredo“ und Peter Kagerers „Solitude“verdeutlichen, dass auch im Reisen oder in der Natur das sich selbst entfremdete Ich ein Korrektiv und eine Neuauslotung erfahren kann. Für den „Berufsabenteurer“ Kagerer etwa verändern sich im Landschaftsraum die Relationen. Der Mensch wird kleiner. Das Ich entschwindet Schritt für Schritt, während sich sein Horizont erweitert. Schäfer wiederum versteht Natur und Landschaft nicht nur als einen realen, sondern vor allem auch als einen metaphorischen Raum. „Nigredo“, ein alchemistischer Begriff, der auf Rückzug, Nebel und Schwärze verweist, ist der Ort von Regression und Transformation. Ein Kokon; ein Symbol der eigenen Wandlung.

Abschied vom Körper

Man kann den Körper also zergliedern, spalten oder dynamisieren. Man kann ihn in soziale Zusammenhänge stellen oder mit Natur verschmelzen lassen. Eines, so scheint es, kann man nicht: Man kann dem Körper nicht entfliehen. Und doch scheint es gerade dieses dissoziative Bemühen zu sein, das unsere Gegenwart immer mehr ausmacht. Die Auslagerung von Fühlen, Denken und Bewusstsein in digitale Netze und computergenerierte Systeme scheint zum Traum des 21. Jahrhunderts geworden zu sein. Körper sollen sich zu Texten transformieren, komplexe Organismen in binären Codes.

Nicht mehr die Verlängerung oder Prothese einzelner Körperfunktionen steht im Zentrum dieses letzten medialen Traumes; der Mensch als Ganzes soll entschwinden. Diese transhumanistische Vision durchzieht die Serie „ICH 2.0“ von Johanna Klee. Indem Klee ihrem eigenen Körper selbstverfasste Mails und Postings einschreibt, veranschaulicht sie, wie der Mensch mehr und mehr eine digitale Dublette seiner selbst erzeugt. Es ist eine mediale Revolution, die, wie alle Umwälzungen zuvor, ein Höchstmaß an Gewalt erfordert. Doch es ist dies keine Gewalt von Außen; das Subjekt selbst verhält sich autoaggressiv. Wer Klees Serie genauer betrachtet, der erkennt das Zerren und das Reißen, mit dem sich die Fotografin medial transformiert. Vielleicht bleibt das Ich aber dennoch immer das Andere. Das, was mit keinem Medium darstellbar ist. Nicht mit Codes oder Algorithmen. Aber letztlich auch nicht mit Fotografie. Wir bleiben uns immer ein Geheimnis. So, wie wir uns vielleicht niemals ganz verkörpern, werden uns auch niemals wirklich entkörpern können.

Leib - Körper, Identitäten, Anpassung, Widerstand.

© Ralf Hanselle: Essay “Selbst-Verkörperungen: Über das Wechselspiel von Körper und Identität in der Fotografie”, abgedruckt im 88-seitigen Ausstellungskatalog zur Leib-Ausstellung